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OF THE ISLANDS STORY |KAPITEL 2 // EPISODE 1 – ROSALIE

Kerzen brannten und beleuchteten ihre runzligen Hände, während sie langsam strickte. Ihr Gesicht lächelte, und manchmal hoben und senkten sich ihre Augenbrauen, als würde sie sich mit einem unsichtbaren Gegenüber unterhalten.


„Rosalie, mit wem redest du da?“, fragte ein neugieriges Kind sie manchmal. Anstatt zu antworten, sagte sie: „Komm her, lass mich sehen, ob du gut gegessen hast.“ Dann schnappte sie sich ein kleines Ärmchen, zog das Kind in eine Umarmung und zwickte kichernd ein pralles Beinchen. „Ah, sehr gut, du hast wohl all deinen Hüttenkäse mit Honig gegessen.“ Ihre Stimmung war immer fröhlich, auch wenn es schwer für sie war, durch die Stadt zu gehen, ohne sich auf halber Strecke am

Brunnen auszuruhen.


Selbst jetzt spielte ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, während Jul sie beobachtete. Das Feuer knisterte im Kamin, Rosalie in ihre Decken gehüllt, und Jul dachte, dass sie Rosalie hier mehr brauchte, als Rosalie hier zu sein brauchte. Die Menschen auf den Inseln lebten nach Regeln. Eine dieser Regeln besagte, dass niemand länger als drei Nächte hintereinander allein schlafen sollte. Das hatte seinen Grund. Sie wollten nicht das Schicksal ihrer Vorfahren erben. Die Menschen der Vergangenheit waren einsam geworden und starben allein, selbst inmitten anderer, in weitläufigen Städten, in denen sie in Wohnblöcken 18 Stockwerke und höher lebten. In diesen Betonschichten verloren sie die Verbindung zur Natur, gingen nie nach draussen, spürten nie die Sonne auf ihren Gesichtern oder den Wind auf ihrer Haut. Sie verloren die Verbindung zu Tieren, Insekten, Vögeln und anderen Lebewesen. Sie verloren sogar die Verbindung zu anderen Menschen, obwohl sie nur wenige Meter entfernt von einem anderen Herzschlag lebten. Am Ende verloren sie die Verbindung zu sich selbst. Und genau dann begann alles zu enden.


„Rosalie, erzähl mir vom alten Leben“, bat Jul sie an solchen Abenden.

„Während der Olivenernte…“ So begann dann eine neue Geschichte. „Die Ernte war eine Zeit, das Leben zu feiern. Wir pflückten die Oliven alle zusammen. Menschen kamen mit dem Flugzeug, um mit uns zu pflücken, sie nahmen sich Urlaub von ihren Jobs und flogen stundenlang, nur um die Ernte mit uns zu erleben. Um echte Früchte zu berühren, um die Muskeln in ihrem Rücken zu spüren, während sie stundenlang pflückten. Um wahre Erschöpfung am Ende des Tages zu fühlen. Um ihren Geist zu

beruhigen, indem sie ihm eine klare Aufgabe gaben. Um Essen und Wein zu schmecken, die aus der Erde kamen.“


Obwohl Rosalie die Älteste auf der Insel war und es als selbstverständlich galt, dass Jul sich als ihre nächste Nachbarin um sie kümmerte, war Jul dankbar, dass Rosalie bei ihr blieb. Sie erkannte, dass sie Rosalie genauso brauchte, wie Rosalie sie brauchte. Nach drei Nächten würde Jul in Rosalies Haus schlafen. Nicht länger als drei Nächte allein – das war eine gute Regel. Niemand war auf der Insel einsam. Die Menschen kannten einander. Diejenigen, die allein lebten, kamen mit Nachbarn, Freunden, ehemaligen und neuen Geliebten zusammen, um unter einem Dach zu schlafen. Nie länger als drei Nächte allein. Um die Verbindung stark zu halten.

 

KAPITEL 2 // EPISODE 2 – DIE GESCHICHTE VON SA


Nun, da ihr die Geschichte des ältesten Bewohners der Insel kennt, sollt ihr auch die Geschichte des jüngsten erfahren. Der Strand. Weitläufig, kalt und windig, doch es ist der Ort, an dem sich Emotionen

sammeln, sich in einem Höhepunkt der grössten Hoffnung entladen und im nächsten Moment in den tiefsten Verlust zerschellen.


An einem solchen Morgen bemerkten Fischer, die sich für ihren täglichen Fang versammelten, einen kleinen Gegenstand am Strand. Sie gingen näher heran, und was sie dort fanden, war etwas, das niemand erwartet hätte: ein Korb, ausgelegt mit Schaffell, das sanft schaukelte, als kleine Füsschen an die Seite stiessen.


Anton schob vorsichtig ein Stück des Schaffells zurück und ein winziges Gesicht wurde sichtbar. Das Baby streckte ihm seine kleine nackte Hand entgegen und gurrte. Wie lange hatte dieses Baby schon am kalten Strand gelegen? Wer könnte es dort zurückgelassen haben? Eine dringendere Frage: Wann hatte das Kind zuletzt etwas gegessen? Anton wickelte das Baby schnell wieder in das Schaffell und fühlte sich erleichtert, als er spürte, dass es warm war und seine runden Wangen nach

einer kürzlichen Mahlzeit zufrieden wirkten. Er drückte sie beschützend an seine Brust und rief seinen Männern zu, den Strand abzusuchen, während er zurück ins Dorf rannte.


Er lief schnell zum Haus von Estelle, die gerade ihr eigenes Kind stillte. Alarmiert nahm Estelle das Baby wortlos und begann, es sofort zu füttern; das Kind saugte gierig. Woher konnte dieses Baby stammen? Auf der Insel gab es keine Frau, die kürzlich entbunden hatte – das hätte die kleine Gemeinschaft sofort gewusst. Doch wie konnte das Baby aus dem Meer aufgetaucht sein, wenn kein Schiff gesichtet wurde? Wer war seine Mutter?


An diesem Abend versammelten sich die Inselbewohner im Dorfzentrum um ein grosses Lagerfeuer, das den frischen Schnee zum Glitzern brachte. Die Geschichte des kleinen Mädchens hatte sich bereits herumgesprochen, und alle waren bereit, Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen.


„Wie soll sie heissen?“, fragte Anton und blickte in die Gesichter der Inselbewohner mit frostigen, rosigen Wangen. „Melissa, Rosa, Larissa, Alyssa…“, riefen einige Stimmen. „Warum nennen wir sie nicht einfach Sa?“, sagte Rosalie. „Ein halber Name passt gut zu einem Kind, dessen Vergangenheit wir nicht kennen. Aber wir alle können ihr eine Zukunft schenken.“


Und so geschah es. Das kleine Mädchen wurde Sa genannt. Es war nun an der Zeit, ihr eine Familie zu geben. „Wir werden ihre Eltern sein.“ Ein Paar ohne Kinder trat vor und bot sich an.

„Und ich werde ihre Grossmutter sein“, sagte Rosalie.


„Ich werde ihre Schwester sein“, sagte Jul.


Sa wurde der jüngste Bewohner der Insel. Babys waren eine der grössten Freuden, und die Inselbewohner umarmten sich gegenseitig, um dem neuen, kleinen Mitglied der Gemeinschaft alles Gute zu wünschen. Sie tranken warmen, gewürzten Wein und Rum bis in den Abend hinein und hielten das Lagerfeuer warm brennend.


Sie fragten sich nie wieder, woher das Mädchen gekommen war. Schliesslich war sie gar nicht so anders als sie alle – Menschen, die irgendwann von irgendwo auf diese Insel gekommen waren, deren Vergangenheit vom großen Hochwasser ausgelöscht worden war, um hier gemeinsam eine neue Zukunft aufzubauen.

 

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